Mein Name ist Lena Wolf. Ich bin Nachfahrin von Deutschen aus dem Russischen Reich. In Lettland wurde ich geboren, wuchs in Kasachstan und in Deutschland auf. Ich habe auch in Neuseeland gelebt und bin derzeit in London, Großbritannien, zu Hause. Ich betrachte mich als Deutsche aus Kasachstan, als Kasachstandeutsche.
Kasachstan war meine erste Heimat. Ich liebte es, in Zentralasien aufzuwachsen und Beschbarmak, Plov, Kimchi und Pelmeni zu essen. Ich hatte Kasachen, Usbeken, Koreaner, Russen, Tataren, Ukrainer, Polen und viele andere als Freunde. Es war wie ein Kaleidoskop der Kulturen, Sprachen und Geschmäcker.
Ich hatte nie hinterfragt, warum wir in Kasachstan lebten, bis Oma Emilia anfing, mir „Gutenachtgeschichten“ über ihre Deportation, Gulags und Sondersiedlungen zu erzählen – meine ersten Horrorgeschichten aus dem wahren Leben.
Erst da wurde mir klar, dass die meisten Kinder auf meiner Schule so waren wie ich. Sie waren Kinder oder Enkelkinder von Deportierten. Menschen, die Stalin bestrafte, indem er sie gewaltsam an weit entfernte Orte umsiedelte. Genau wie meine Familie hatten die anderen kein Recht oder keinen Ort, an den sie zurückkehren konnten.
Die Frage nach der Identität war für mich immer eine schwierige. Wurde ich in Kasachstan „Deutsche“ genannt, so wurde ich in dem Moment, als wir nach Deutschland einwanderten, zur „Russin“, obwohl ich nie in Russland gelebt hatte. Im Rest der Welt hat man noch nie etwas von Deutschen aus Kasachstan oder dem Russischen Reich gehört, was es schwierig macht, zu erklären, wer man ist.
Dieses Buch handelt von der Geschichte der Deutschen aus dem Russischen Reich. Auf einer persönlichen Ebene ist es zugleich eine Geschichte über die Suche nach Identität und darüber, wie Trauma und Vertreibung nicht nur eine Generation, sondern viele nachfolgende Generationen beeinflussen.
„Der wirksamste Weg, Menschen zu zerstören, besteht darin, ihr eigenes Verständnis ihrer Geschichte zu leugnen und auszulöschen.“
George Orwell
„Möge die Welt dein Zuhause sein!“ ist eine Graphic Novel über die Geschichte von Millionen von Menschen in der Sowjetunion, die von Stalin aufgrund ihrer ethnischen Herkunft deportiert wurden. Meine Familie war eine von ihnen.
Die Geschichte meiner Familie beginnt mit Katharina der Großen, der Kaiserin des Russischen Reiches, die selbst deutscher Abstammung war. Sie veröffentlichte 1763 ein Manifest, in dem sie Menschen aus ganz Europa einlud, sich auf russischem Boden anzusiedeln. Meine Vorfahren nutzten diese Gelegenheit, um die vom Krieg zerrütteten deutschen Länder des 18. Jahrhunderts zu verlassen und im Russischen Reich, wo es Land in Hülle und Fülle gab, ein neues Leben zu beginnen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte meine Familie dieses Land seit über 170 Jahren bewirtschaftet und bewohnt. Sie waren Sowjetbürger. Doch im August 1941 erließ Stalin einen Deportationsbefehl für jeden einzelnen Menschen deutscher Herkunft. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jeder ältere Mensch wurde der Spionage beschuldigt.
Innerhalb weniger Monate wurden fast eine Million Menschen unter den denkbar schlimmsten Bedingungen deportiert. Viele überlebten den Transport nicht. Nach den Deportationen, Gulags und Sondersiedlungen war jeder dritte der deportierten Menschen tot.
Meine Geschichte wird von drei Protagonistinnen, drei Frauen, erzählt. In diesem ersten Buch lernen wir Lena kennen, die in London lebt. Sie versucht, ein normales Leben zu führen, und doch lastet die Geschichte ihrer Familie schwer auf ihr.
Die zweite Protagonistin ist Lena’s Großmutter Emilia, der wir in Kasachstan begegnen. Sie ist eine kleine, stolze Frau, die keine Angst vor Verfolgung hat, denn all das hat sie schon erlebt. Oma Emilia backt deutschen Kuchen und organisiert katholische Gottesdienste im Untergrund für ihre älteren Freunde in einem Land, in dem Religion verboten ist.
Im zweiten Buch lernen wir schließlich Oma Josephine kennen. Sie lebt in Deutschland und erzählt uns ihre eigene Geschichte von Deportationen und Gulags. Sie überlebte zwei Gulags. Unter anderem wurde sie zu 20 Jahren in Workuta verurteilt, einem brutalen Lager, das mehrere hundert Kilometer nördlich des Polarkreises liegt. Bei jedem Besuch von Lena bei ihrer Großmutter begrüßt Josephine sie mit „Hallo, wie geht es dir?“ in zehn verschiedenen Sprachen. Sprachen, die sie von all den anderen Frauen gelernt hat, denen sie im Gulag begegnet war.
Ziel dieses Buches ist es, das Bewusstsein für die Geschichte der Deutschen aus dem Russischen Reich zu stärken. Jahrzehntelang wurde über Russlanddeutsche geschwiegen, da das Reden darüber zur Verhaftung oder Schlimmerem führen konnte. Später wurde es zur Gewohnheit, nicht darüber zu reden. „Vorwärtsgehen, Vergessen und Integrieren“ wurde zu unserem Motto in Deutschland. Aber unsere Geschichte nicht zu kennen, bedeutet auch, nicht zu wissen, wer wir sind. Wie können wir uns geerdet fühlen und in die Zukunft blicken, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Erinnern wir uns daran, wer wir sind!